Was ›kill your darlings‹ wirklich bedeutet (Teil 1)
Zum Thema ›Kenne die Schreibregeln, bevor du auch nur darüber nachdenkst, sie zu brechen‹, könnte ich einen eigenen Blogbeitrag schreiben. Selbiges gilt für die Regeln in dem Genre, in welchem du dich als Schreiberling herumtreibst. Heute widme ich meine Aufmerksamkeit aber einer Regel, die vielen Autoren zum Hals raushängt und die dennoch nur die wenigsten auch anwenden, obwohl ihre Texte dadurch so unendlich viel gewinnen würden.
Es geht weder darum, Charaktere zu töten, um den Leser zu schocken oder bei der Stange zu halten (Spannungsbogen). Noch sollen all die Sätze, Absätze und Szenen gelöscht werden, die euch Weltenschaffern besonders gut gefallen. Kill your darlings meint schlicht nichts anderes, als das aus deiner Geschichte zu streichen, was nicht hineingehört. Und weil viele Autoren genau an diesen Szenen, Charakteren und Handlungssträngen hängen, sind wir dann bei den Lieblingen, die um die Ecke gebracht werden. Meist im Lektorat. Obwohl ich immer wieder Bücher lese, in denen die Handlung nicht vorankommt, Charakter und Dialoge überflüssig sind und schlicht die Spannung fehlt. Das Problem ließe sich leicht lösen: Lösch, was nicht in deine Geschichte reingehört!
Charaktere
Aber fangen wir mal damit an, uns vor Augen zu führen, was der Sinn und Zweck von (Neben)Charakteren, Szenen und (Sub)Plots ist, dann wird es für euch verständlicher, worauf ich hinaus will. In Romanen greift alles ineinander und ergibt ein großes Ganzes. Die Geschichte ist sozusagen im Fluss. Stolpert der Leser irgendwo im Text, hat er das Gefühl, die Charaktere handeln falsch oder die Handlung ist nicht stimmig, ist das meist ein Indiz dafür, dass tatsächlich etwas nicht stimmt. Und diesem Gefühl sollten Autoren und Lektoren auf den Grund gehen. Natürlich gibt es viele kleine Stellschrauben, an denen der Text kranken könnte, aber eine von den größeren ist kill your darlings.
Stellt euch vor, eure Protagonistin hat zwei Freundinnen, mit denen sie über ihre Probleme redet, mit denen sie ausgeht und die sie unterstützen.
Daran ist erst mal nichts falsch. Viele Autoren scheitern aber an der Umsetzung. Beide Freundinnen handeln so absolut gleich, dass der Leser sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Die Charaktere verschmelzen für ihn miteinander. Aber warum passiert das? Die Freundinnen geben der Protagonistin dieselben Ratschläge, sind sich bei allem einigen und machen sich super als Unterstützerinnen. Das Problem ist aber: Wozu brauche ich ZWEI Nebencharaktere, die genau gleiche sind? Richtig, die brauche ich nicht. Die Lösung: Entweder wird eine der Freundinnen gestrichen oder wir wandeln sie ein wenig ab. Natürlich bleibt ihre Rolle als Verbündete der Helden gleich (mehr dazu unten), aber wir verändern, wie die Freundin diese Rolle erfüllt. Ist die eine wie eine begeisterte Cheerleaderin, die unsere Protagonistin niemals kritisieren würde, gestalten wir die zweite Freundin als das genaue Gegenteil. Ihre Meinung unterscheidet sich deutlich, deshalb gehen ihre Ratschläge in eine andere Richtung und wenn die Protagonistin jammert, hält sie kein Händchen, sondern verteilt Arschtritte. Und schon hast du einen Charakter geschaffen, der gebraucht wird. Gut!
So verhält es sich mit allen Nebencharakteren. Hinterfrage dich noch vor dem ersten Satz, wofür ihr welchen Charakter so unbedingt in der Geschichte braucht. Oft sind es gerade Debütautoren, die auf den ersten Seiten schon zehn Nebenfiguren einführen und in jeder Szene kommen einige dazu, bis der Leser den Überblick verliert. Bei genauerem Hinsehen könnten viele dieser Charaktere wegfallen oder mit anderen zusammengelegt werden, ohne damit die Story zu zerstören.
Aber was sind denn nun Funktionen, die meine (Neben)Charaktere erfüllen müssen? Dann schauen wir uns mal an, welche Rollen / Archetypen wir so alles in unseren Geschichten haben. Ihr könnt sie mit eurem ›Personal‹ besetzen. Ob das nun Freunde und Familie unseres Protagonisten sind oder Fremde, entscheidet ihr selbst. Achtung: Nicht immer muss jede Rolle besetzt werden).
Archetypen
Protagonisten oder Helden sind die Hauptcharaktere unsere Geschichte. Um sie dreht sich die ganze Haupthandlung, auch wenn sie nicht immer Perspektivfigur sind (dazu in einem anderen Beitrag mehr). Jede Geschichte hat nur einen Protagonisten. Wenn eine Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt wird, sind es entweder zwei verschiedene Geschichten. Weil jeder Protagonist einen eigenen Konflikt, ein eigenes Ziel und eine eigene Motivation hat. Dadurch ist sein Blick auf seine Umwelt anders als die seines Love-Interest oder der besten Freundin. Oder es ist so, dass es auch mit mehreren Perspektivfiguren nur einen Protagonisten gibt und jede andere Figur nur eine Nebenhandlung erzählt. Funktion: Zeigt uns seine Welt, seine Probleme, seine Schwächen.
Antagonisten kann es mehrere geben, besonders, wenn euer Schurke nicht allein handelt und seine Helfer hat. Aber meist gibt es den einen Gegenspieler, der unseren Protagonisten am Erreichen seines Ziels hindern will und dafür auch alle Hebel in Bewegung setzt. Achtung: Ein Antagonist muss nicht immer menschlich sein. Es könnte auch ein Monster oder ein Tier sein. Manchmal ist es eine antagonistische Kraft wie eine Naturkatastrophe oder eine Krankheit. Die Funktion habe ich schon erwähnt: Hindert unseren Protagonisten am Erreichen seines Ziels und legt ihm immer und immer wieder Hindernisse in den Weg, die mit jeder Begegnung gewaltiger werden.
Der Love-Interest (manchmal wird diese Rolle von mehreren Charakteren besetzt) ist die Figur, in die unser Protagonist verliebt ist oder sich in der Story verlieben wird. Ob diese Liebe erwidert wird und glücklich endet, spielt dabei keine Rolle und hängt auch vom Genre und anderen Faktoren ab. Die wichtigste Funktion des LI ist (zumindest in Liebesromanen): Er ist ein Spiegel unseres Protagonisten und zeigt ihm, was in seinem Leben falsch läuft. Er ist das genaue Gegenteil unseres Protagonisten, der auch dadurch erkennt, dass bei ihm was falsch läuft. Um mit ihm zusammen zu sein, muss unser Protagonist aktiv werden und Hindernisse überwinden.
Der Mentor hat die offensichtliche Funktion, unserem Protagonisten etwas beizubringen. Sei es nun eine Fähigkeit, ein Handwerk oder die emotionale Reife. Es ist genau das, was unser Protagonist braucht, um aus seinem alten Ich hinauszuwachsen und am Ende die antagonistische Kraft besiegt oder überwindet (wie auch immer ihr sie gestaltet). Meist ist der Mentor um einiges älter als der Protagonist, was dem Leser Weisheit und Erfahrung seitens des Charakters vermitteln soll, aber das ist nicht immer notwendig.
Verbündete sind alle, die unserem Protagonisten nahe stehen, ihn unterstützen und ihm dem Erreichen des Ziels näher bringen. Es wird fast immer mehrere Verbündete geben (Freunde, Familie, Weggefährten, …), aber innerhalb ihrer Rolle müssen sie sich unterscheiden. Auch hier kann es wieder Figuren geben, die den Protagonisten spiegeln und solche, die sein absolutes Gegenstück sind, wichtig ist nur, dass sie ihm unter die Arme greifen, ihn voranbringen und bei seiner Entwicklung helfen.
Der Sidekick ist der Doktor Watson für unseren Sherlock Holmes. Immer an der Seite unseres Protagonisten ist er nicht nur moralische Stütze, sondern lässt auch Verstand und Muskelkraft in die Lösung des Problems mit einfließen. Damit bietet er alles auf, was er hat und ist die perfekte (oder unperfekte) Ergänzung unseres Helden.
Bote oder Herold überbringt unserem Protagonisten Nachrichten und verdeutlich ihm, dass eine Veränderung nötig ist, um siegreich hervorzugehen und das Ziel zu erreichen. Funktion: Antrieb zum Handeln.
Schwellenhüter (oder auch Türsteher) wollen unseren Protagonisten an seiner Reise und seiner Entwicklung hindern und können an mehreren Stellen der Geschichte auftreten. Beispiele für diese Hüter, die den Status quo erhalten wollen, sind Familienmitglieder und Freunde, die zurückgelassen werden sollen, aber auch andere Figuren, die die Reife des Protagonisten prüfen und testen, ob er schon bereit für die anstehenden Aufgaben ist. Unser Held muss diese Schwellenhüter umgehen.
Der Schatten ist eine zerstörerische Kraft, die unseren Protagonisten mit seinen Schwächen und Ängsten konfrontiert und das offenbart, was er verbergen will. Praktisch das böse Spiegelbild, das unter der Oberfläche des Protagonisten lauert und ihm jetzt in Fleisch und Blut gegenübersteht. Dadurch fordert er den Helden heraus und bringt ihn in Gefahr.
Dann wären da noch die Trickster. Sie sind weder böse noch gut, stiften aber Chaos und zerstören die Pläne unseres Protagonisten, ohne dabei aber böse Absichten zu haben.
Gestaltwandler sind Figuren, die im Verlauf der Geschichte vom Freund zum Feind unseres Protagonisten werden und ihn verraten. Sorgt für weitere Hindernisse bei der Entwicklung des Helden.
Das waren viele Informationen, die ihr verarbeiten solltet, bevor es im zweiten Teil des Beitrags um Handlungsstränge, Szenen und Sätze geht, die ihr ruhig streichen könnt, ohne dass euer Buch dadurch etwas verliert. Im Gegenteil, dadurch gewinnt es an Spannung und Dynamik. Außerdem beleuchte ich, wie ›kill your darlings‹ mit Infodump zusammenhängt.
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